HINTERGRUND 

Demokratie ist nicht nur eine Regierungsform, sondern ein alle Institutionen durchziehender und den Alltag prägender Lebensstil (Dewey, 1916/1980). Dieser Lebensstil ist voraussetzungsreich, er muss gelernt und praktiziert werden (Habermas, 1992). Denn die Debatte, wie wir zusammenleben und unseren Lebensraum gestalten wollen und wie die sozialen, politischen und ökonomischen Verhältnisse sein sollen, ist ein andauernder, niemals abgeschlossener Prozess (Arendt, 1981), der in einer Demokratie in allen Lebensbereichen stattfindet und an dem alle teilhaben können sollten (Kahlert & Lenz, 2001).

​Demokratische Bildung gehört deswegen zu den grundlegenden Aufgaben der Schule (Honneth 2012; Simon & Schmitz, 2021), und in Österreich, Deutschland und der Schweiz eröffnen die Lehrpläne erhebliche Spielräume für eine aktive Beteiligung der Schüler:innen an allen relevanten Entscheidungen (Jungkunz et al., 2023). Es fehlt auch nicht an bewährten Konzepten (u. a. Brügelmann, 2019; Himmelmann, 2005; Oser & Althof, 2001). Diese sind jedoch weder im Handlungsrepertoire der Lehrpersonen noch in der pädagogischen Kultur der Schule zum jetzigen Zeitpunkt hinreichend verankert (Coelen 2010; Edelstein & Fauser, 2001; Quenzel et al., 2023). Edelstein und Fauser (2001, S. 6) fordern deswegen, die professionelle und institutionelle Entwicklung der Schule im Blick auf ihre demokratie- und jugendpolitischen Handlungs- und Erziehungsspielräume systematisch voranzutreiben. An dieser Stelle setzt das Projekt DemoS an.

FORSCHUNGSERGEBNISSE

​Ergebnisse des Vorgängerprojekts Bildung und Partizipation zeigen, dass Schüler:innen vor allem dort mehr mitbestimmen wollen, wo sie es bisher am wenigsten können, und zwar im Kerngeschäft der Schule: dem Unterricht. Sie zeigen weiter, dass Schüler:innen, wenn sie in der Schule mitbestimmen können, vielfältige demokratische Kompetenzen erwerben: Sie lernen, ihre eigenen Anliegen und Interessen zu artikulieren, erleben, mit diesen ernstgenommen zu werden, üben, die Interessen der anderen anzuerkennen, sich in andere hineinzuversetzen und ihre Perspektive zu übernehmen, üben Ergebnisse auszuhandeln und zu kooperieren, werden toleranter und erleben sich als selbstwirksam (Jungkunz, 2023, S. 113–140). Durch Mitbestimmung wird die Schule zu ihrer Schule. Die Jugendlichen gehen gerne dorthin und das Lernen macht ihnen mehr Spaß. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen auch Gasser und Gutzwiller-Helfenfinger (2011) sowie Grossmann (2003). 

​Diese Befunde legen die Schlussfolgerung nahe, dass die Möglichkeiten in der Schule mitzubestimmen in erster Linie davon abhängen, ob in Schule und Unterricht eine Kultur der Beteiligung praktiziert wird. Um die Beteiligungsmöglichkeiten von Schüler:innen zu erhöhen, gilt es daher offenbar vor allem gezielt Strukturen zu schaffen, die diese Beteiligung im alltäglichen schulischen Bereich stärken. Hierfür ist es von Bedeutung, zentrale Herausforderungen für Schüler:innen und Lehrpersonen zu adressieren. Dies geschieht im Projekt DemoS über die Etablierung von Dialogen auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Veranstaltungsformaten:

DIALOGE & VERANSTALTUNGEN

Dialog zwischen Wissenschaft und schulischer Praxis

In einer Vortragsreihe diskutieren Wissenschaftler:innen sowie Expert:innen aus der demokratischen Schulpraxis mit Lehrpersonen, Schüler:innen, Schulleitungen und allen Interessierten. An neun Terminen beleuchten jeweils verschiedene Referent:innen das Thema Demokratie in der Schule aus theoretischer und schulpraktischer Perspektive. Möglichkeiten von Partizipation von Schüler:innen in der Schule werden diskutiert und Beispiele aus der Praxis vorgestellt. Referent:innen sind u. a. Margret Rasfeld von „Schule im Aufbruch”, das Soziopod-Team sowie Rebekka Dober von „YEP – Stimme der Jugend”
Dialog zwischen Lehrpersonen

Auf einem länderübergreifenden BarCamp bieten Lehrpersonen und Schulleitungen Einblicke in gelingende Beteiligungsformate in ihrer Schule oder ihrem Unterricht, z. B. zu offenen Unterrichtsformaten (Lernbüro etc.), Etablierung von Schulparlamenten, Planspielen (Schule als Staat etc.) oder FREI DAY (Schulen im Aufbruch). Am Roundtable können Interessierte nach dem BarCamp weiterdiskutieren und sich regelmäßig virtuell und länderübergreifend über gelungene Entwicklungen und verbleibende Herausforderungen austauschen. Nach Bedarf können verschiedene Expert:innen für Fortbildungen eingeladen werden, z. B. zu Konzepten zum demokratischen Unterricht.
Dialog innerhalb der Gruppe der Schüler:innen

Schüler:innen führen gemeinsam mit einer Lehrperson in ihrer Klasse partizipative Aktionsforschung durch (in Anlehnung an Altrichter & Reitinger, 2020). Die Schüler:innen entwickeln gemeinsam Ideen und partizipative Unterrichtselemente und erproben diese gemeinsam mit der Lehrperson. Die Schüler:innen dokumentieren und visualisieren die Ergebnisse der Aktionsforschung (z. B. in Videos, graphic recordings, Comics, Podcasts, Performances etc.). Geplant sind Aktionsforschungsprojekte an neun Schulen (drei pro Land).

Dialog mit allen Beteiligten

Auf einem Zukunftsforum fließen die von den Schüler:innen entwickelten Vorstellungen für mehr Unterrichtsbeteiligung, die von den Lehrpersonen vorgestellten Beteiligungsformate und die Expertise aus der Wissenschaft zusammen. Das Zukunftsforum ist in der Mitte der Projektlaufzeit als zweitägige Präsenzveranstaltung mit Übernachtungsmöglichkeiten geplant. Sie wird professionell moderiert und partizipativ gestaltet, um Synergieeffekte durch den Dialog von Schüler:innen, Lehrpersonen und Wissenschaftler:innen entstehen zu lassen.

 

Literatur

​Altrichter, H. & Reitinger, J. (2019). Analyse von Unterricht durch forschendes Lernen: Wie Lehrpersonen aus ihrem Unterricht lernen können. In E. Kiel, B. Herzig, U. Maier, U. Sandfuchs (Hrsg.), Handbuch Unterrichten an allgemeinbildenden Schulen (S. 475–485). Klinkhardt.
Arendt, H. (1981). Vita activa oder Vom tätigen Leben. Piper. https://doi.org/10.1177/1476750305052138
Brügelmann, H. (2019). Demokratisierung von Schule und Unterricht. In M. Harring, C. Rohlfs & M. Gläser-Zikuda (Hrsg.), Handbuch Schulpädagogik (S. 620–630). Waxmann.
Coelen, T. W. (2010). Partizipation und Demokratiebildung in pädagogischen Institutionen. Zeitschrift für Pädagogik, 56(1), 37–52.
Dewey, J. (1916/1980). Democracy and Education. The Middle Works, 1899-1924 Volume 9: 1916. Southern Illinois University Press.
Edelstein, W. & Fauser, P. (2001). Demokratie lernen und leben. Gutachten zum Programm. BLK. https://doi.org/10.25656/01:239
Gasser, E. & Gutzwiller-Helfenfinger, E. (2011). Sozialmoralische Kompetenzen und Partizipation. In Reinhardt, V. (Hrsg.), Demokratie und Partizipation von Anfang an. (S. 83–101). Schneider.
Grossmann, H. (2003). Partizipationsförderung im Kindergarten. In D. Sturzbecher & H. Grossmann (Hrsg.), Praxis der sozialen Partizipation im Vor- und Grundschulalter (S. 184–223). Ernst Reinhardt.
Habermas, J. (1992). Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Suhrkamp.
Himmelmann, G. (2005). Was ist Demokratiekompetenz? Ein Vergleich von Kompetenzmodellen unter Berücksichtigung internationaler Ansätze. BLK. https://doi.org/10.25656/01:257
Honneth, A. (2012). Erziehung und demokratische Öffentlichkeit. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 15(3), 429–442. https://doi.org/10.1007/s11618-012-0285-9
Jungkunz, S. (2023). Erwerb von Kompetenzen durch Partizipation. In Quenzel, G., Beck, M. & Jungkunz, S. (Hrsg.), Bildung und Partizipation (S. 113–140). Budrich. https://doi.org/10.2307/j.ctv362chsf.8
Jungkunz, S., Lehnerer, E. & Renna, A. (2023). Strukturelle und gesetzliche Rahmenbedingungen schulischer Partizipation. In G. Quenzel, M. Beck & S. Jungkunz (Hrsg.), Bildung und Partizipation (S. 21–43). Budrich. https://doi.org/10.2307/j.ctv362chsf.4
Kahlert H. & Lenz, C. (2001). Verstehen, Urteilen, handeln – Impulse Hannah Arendts für die Neubestimmung des Politischen. In H. Kahlert & C. Lenz (Hrsg.): Die Neubestimmung des Politischen. Denkbewegungen im Dialog mit Hannah Arendt (S. 7–43). Ulrike Helmer Verlag.
Oser, F. & Althof, W. (2001). Die Gerechte Schulgemeinschaft. Lernen durch Gestaltung des Schullebens. In W. Edelstein, F. Oser & P. Schuster (Hrsg.), Moralische Erziehung in der Schule. (S. 233– 268). Beltz.
Quenzel, G., Beck, M. & Jungkunz, S. (Hrsg.). (2023). Bildung und Partizipation. Mitbestimmung von Schülerinnen und Schülern in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Budrich. https://doi.org/10.2307/j.ctv362chsf
Simon, T. & Schmitz, L. (2021). Kontinuitäten auf der Spur? Einstellungen angehender Sachunterrichtslehrkräfte zur Partizipation von Schüler*innen im Zusammenhang zum erlebten Demokratisierungsgrad von Schule und dem Gefühl diskursiver Wirksamkeit. In T. Simon (Hrsg.), Demokratie im Sachunterricht – Sachunterricht in der Demokratie (S. 283–303). Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-658-33555-7_22